Zehn Jahre sind vergangen, zehn lange Jahre seit jener Schmach, die Gäste ungeduldig, der Priester nervös, das Brautkleid noch nicht abbezahlt… Zehn verdammte Jahre. Sie hat ihn seitdem nie wieder gesehen. Immer wieder sagt sie sich “das Leben geht weiter”, und auch ihr Therapeut rät ihr dazu, sich endlich zu lösen und ein neues Leben anzufangen. Aber sie ist nicht in der Lage gewesen, einen neuen Mann an ihrer Seite zuzulassen. Immer wieder diese Erinnerungen an ihn, an seine funkelnden grünen Augen und sein verschmitztes Lächeln. Nichts in der Welt könnte das je wiedergutmachen. Und niemand je seinen Platz einnehmen. Lieber allein, das ist ihre Devise.
Sie ist gern allein. Allein mit der traurigen Erinnerung und den unvollendeten Bildern und Gesprächen. Was sie ihm alles sagen, alles an den Kopf werfen würde, könnte sie ihn bloß einmal wiedersehen. Ein einziges Mal, damit sie das Buch endlich schließen kann, dieses Kapitel, von dem sie dachte, es könnte ihr Happy End werden.
Ein Schild rauscht in der Dämmerung an ihr vorbei: “Trona 44, Ridgecrest 66”. Noch drei Stunden bis Las Vegas. Sie zieht es vor, abends zu fahren, das macht die Wüstenhitze erträglicher. Die offenen Fenster lassen den Fahrtwind durch den Wagen wirbeln, doch der Asphalt trägt die aufgestaute Hitze ins Wageninnere.
Plötzlich ist ein Mann in der Ferne zu erahnen. Er ist noch ziemlich weit weg und sie ist sich zunächst nicht sicher, aber ihre Augen haben sie noch nie betrogen. Da ist ein Mann, der auf dem Highway läuft. Was um Himmels Willen macht er hier? Wo will er hin? Wieso ist er allein? Während sie auf ihn zufährt, überschlagen sich die Fragen in ihrem Kopf. Vor ihr liegt das Death Valley, und die Nacht bricht bald herein.
Der Mann zieht das linke Bein nach und geht sehr langsam. Irgendetwas an seinem Gang wirkt seltsam vertraut. Sie runzelt die Stirn. Nein, das kann nicht sein. Seine Kleidung ist zerlumpt, er ist offensichtlich schon eine Weile unterwegs. Die Füße sind mit schmutzigen Lappen umwickelt, Schuhe scheint er nicht zu haben. Das Blut am linken Fuß ist frisch.
Er hört das herannahende Auto, dreht sich um und winkt. Das Gesicht ist sonnengegerbt, die Haare verfilzt, doch seine Augen funkeln grün, selbst bei diesem schwachen Licht. Ihr Herz bleibt stehen. Sie atmet tief durch, bremst und kommt ein paar Meter vor ihm zum Stehen. Die Hände am Lenkrad wartet sie in Ruhe darauf, dass er sich ins Wageninnere beugt.
“Bitte”, beginnt er. Seine Stimme ist rau und brüchig. “Nehmen Sie mich mit, ich bin verletzt und brauche Hilf…” Da erst blickt er in ihr Gesicht und verstummt. In seinen Augen Hoffnung, Panik, Freude, Unsicherheit. “Hey…” Sein unsicheres Lächeln entblößt einen fehlenden Frontzahn. “Ich…” Sie sieht ihn eine Weile schweigend an, nickt dann bedächtig und sagt “Du musst dafür zahlen.”
Zögernd und ohne den Blick von ihr zu wenden kramt er einen Lederbeutel hervor, den er unter der Kleidung um den Hals trägt. “Dieser Ring ist alles, was ich habe. Er hat einen Riesen gekostet…”
Sie lächelt, doch das Funkeln in ihren Augen ist für ihn nicht sichtbar, als sie erwidert “Das ist nicht genug”.
Und während sie die Bremse löst und den Wagen davonrollen lässt, fährt sie ganz langsam das Fenster wieder hoch.
Littlejamie
Foodie, Traveller, Blogger.
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