Als ich nach Deutschland kam, war es kalt. Tags zuvor hatten wir noch im Meer gebadet und waren nur mit Shorts bekleidet barfuß durch die Gassen geschlendert. Am Flughafen in München maß man -3°C. Es war Ende November. Ich fror entsetzlich.
Als ich nach Deutschland kam, sprach ich kein Deutsch. Ich kannte “Guten Tag”, “Armbanduhr” und “Komponist”, weil ich diese Wörter zuhause in einer Radiosendung zum Deutschlernen gehört hatte. Ich sprach Rumänisch, Russisch, Englisch und etwas Hebräisch. Nachts träumte ich in fünf bis sechs verschiedenen Sprachen, jenen, die uns auf unserem Weg nach Deutschland begegnet waren.
Als ich nach Deutschland kam, sah ich anders aus. Meine Haare waren kurz geschnitten, die Pubertät hatte noch nicht eingesetzt. Ich sah aus wie ein Junge.
Als ich nach Deutschland kam, stand ich im Unterricht auf, wann immer ich eine Frage beantwortete. Ich war so erzogen worden. Ich empfand es als unhöflich, sitzen zu bleiben, wenn ich etwas gefragt wurde. Meine Mitschüler lachten mich aus.
Als ich nach Deutschland kam, wusste ich nicht viel über die Gepflogenheiten dieses Landes. Ich stand eines Abends mit meiner Schwester im Laternenschein an einer Ampel, wir unterhielten uns und wunderten uns, warum die vorbeifahrenden Autos langsamer wurden oder gar hielten und warum uns einige der Fahrer in dieser uns unbekannten Sprache beschimpften. Bis uns eine nette Frau auf Englisch erklärte, dass sie halten, weil sie damit rechnen, dass wir die Straße überqueren möchten. Ich habe danach nie wieder an einer Ampel gestanden, ohne auf die andere Straßenseite zu wollen.
Als ich nach Deutschland kam, klangen viele Wörter fremd. Zum Beispiel das Wort “bestimmt”, das wir für ein Schimpfwort hielten. “Du bist doch bestimmt!” sagten wir einander immer wieder, manchmal ernst, manchmal im Spaß, aber immer als Beschimpfung gemeint. Als unser Onkel uns eines Tages erklärte, was das Wort wirklich bedeutete, dauerte es noch eine ganze Weile, bis es irgendwann tatsächlich auch nach “mit Sicherheit” schmeckte und nicht mehr nach “doof”.
Als ich nach Deutschland kam, fühlte ich mich heimatlos. Ich hatte mein Geburtsland verlassen, hatte mich mit einem zweiten Land verbrüdert und war in ein drittes eingewandert. Ich fühlte mich seltsam losgelöst, schwebend, nirgends zugehörig. Für Jahre.
Als ich nach Deutschland kam, rechnete ich fest damit, dass ich einige Wochen später wieder zurückgehen würde, um meine Freunde wiederzusehen. Ich wusste nicht, dass es neun Jahre dauern würde, bis ich zum ersten Mal wieder einen Fuß in die alte Heimat setzen würde.
Als ich nach Deutschland kam, war ich elf.
Als ich nach Deutschland kam, hatte ich unendliches Glück.
vatel
Hat mich sehr zum Denken angeregt dein Text : Als ich nach Deutschland kam, konnte ich nichts dafür, meine Eltern waren schuld, als meine Kinder geboren wurden war es unsere logische Entscheidung hier zu sein. Ob meine Kinder das Gleiche denken werden wie wir, in 20 Jahren ?
JN
… hab
Jamie
@JN Hihi :) Haste meine Mail bekommen?
JN
Selbstverständlich erinnere ich mich – und jedesmal mit Freuden ! 8)
Jamie
@JN Ha! Wie kommst DU denn hierhin???
Lustig, dass ich bei dem Satz auch *tatsächlich* immer an Dich denke. Aber nur, weil wir mal genau *darüber* geredet haben, erinnerst du dich?
Hehe, ich bin gerade begeistert :)
JN
Viele Deiner Mitschüler haben Dich ausgelacht … aber nicht alle ! ;o)
Wortschaetzchen
Berührt. Mich. Sehr.
MonikaZH
sehr sehr berührend. Danke
Katja
Gänsehaut. Dankesehr.
synaesthetisch
Ein mitreißend-poetisches Stückchen Text. Toll!
Frau
*schluck*
Sehr schön geschrieben… Sehr auf den Punkt und sehr in mein Herz. In das meiner Mama auch :-)
isabo
Wow.