Ich stecke bis zum Handgelenk in einer weichen Tube, die mit anderen weichen Teilen gefüllt ist, und versuche, die Tube zu leeren. Das tue ich, indem ich an diesen anderen Teilen, die an den Wänden der Tube angewachsen sind, ziehe und zerre.
Weich ist gar kein Ausdruck: alles ist glibbrig und glibschig und rutscht mir aus den Fingern, die in der Tube eh keinen richtigen Halt finden. Obendrein ist alles in schwarze Tinte getaucht, die irgendwie immer mehr wird. Ich fühle mich wie beim Dialog im Dunkeln.
Um mich herum stehen Leute, die mich mit einer Mischung aus Bewunderung, Ekel und Neugier anschauen – und wie wild alles fotografieren, was ich aus der Tube hervorhole.
[Bild: Daniela Haug]
Die Tube ist ein Sepia, der kurz zuvor noch gelebt hat und den wir heute Abend “a la plancha” zuzubereiten gedenken. Ich befinde mich im Cilento, genauer gesagt in der Küche des Hotels Antonietta in San Marco di Castellabate, und bin Teilnehmer des von Florian Siepert ins Leben gerufenen Foodcamps mit demselben Namen (Cilento, nicht Siepert), das vom 1. bis 5. Oktober stattfindet. Mehr zu dieser Idee und wie sie entstanden ist, kann man in Florians eigenem Blog nachlesen. Für mich war jedenfalls sofort klar, dass ich hin muss.
Es ist der letzte Abend unseres fünftägigen Kochevents, der Sepia kommt frisch aus dem Meer. Mit ihm hat keiner gerechnet. Die Leute, die heute fischen waren, sollten – genau wie die Tage zuvor – Kalmare mitbringen, diese konischen, kleineren Tintenfische, aus denen die Calamares (Verzeihung, Calamari, wir sind ja hier in Italien) gemacht werden. Und plötzlich steht einer in der Küche und verkündet nicht ohne Stolz: “Drei Kalmare und anderthalb Kilo Sepia!” Und da ist er, der Riesenhoschi, den ich nun versuche, auszunehmen. Ich habe wirklich Mühe, ihn überhaupt zu fassen zu kriegen. Es ist ja nicht so, dass ich das noch nie gemacht habe, ich bin ja quasi schon ein alter Tintenfisch-Hase, aber irgendwie ist bei diesem hier alles anders.
Nata und ich sind seit drei Tagen für die Tintenfische zuständig. Am ersten Tag hat sie mir erklärt, was ich tun muss: in die Tube greifen und Kopf und Eingeweide rausziehen, die plastikartige Lanze am Rücken des Tiers, die das Skelett darstellt, entfernen, Haut abziehen, Tentakel von Kopf und Schnabel trennen, alles nochmal innen und außen waschen, fertig. Was bei den gekauften Kalmaren ohne Schwierigkeiten ging, war bei den frisch gefangenen schon mit etwas mehr Mühe verbunden: die Eingeweide waren etwas fester mit den Tuben verwachsen, zwei von den Tieren waren obendrein so nett, Nata ihre tiefschwarze Tinte auf die Arbeitsfläche zu kippen. Posthumer Protest sozusagen. Wir haben also gerissen und gepuhlt, Eingeweide in diversen Farben ans Tageslicht geholt, papageienartige Schnäbel und Augen weggeschnitten, pigmentierte Häute vom Körper getrennt – alles mehr oder weniger perfekt, aber immer mit Spaß und begleitet vom Klicken der Fotoapparate ringsum.
Nun ist ER aber da. Er sieht schon mal anders aus: statt einer weißlichen, durchscheinenden Tube hat er eine gelb-braun gestreifte Oberfläche und ist gut und gerne fünf- bis siebenmal größer als die Kalmare und auch etwas runder. Was ich beim Stochern noch feststelle: wo die Kalmare nur diese durchsichtige Plastiklanze als Rückenskelett besitzen, hat der Sepia eine leichte, aber harte Kalkschale. Als ich sie irgendwann draußen habe, weiß ich endlich, wie das in echt aussieht, was immer an Stränden angespült und im Haustierbedarf als Kalkspender für Wellensittiche verkauft wird: der Schulp, das Auftriebstool der Sepias.
Meister Sepia ist überhaupt nicht begeistert davon, dass wir ihn so malträtieren: er spuckt Gift und Galle (lies: Tinte), die binnen Sekunden alles schwarz färbt, was um ihn herum liegt: mein Küchenbrett und das Messer mit dem ich mich sogar schneide weil ich nichts erkennen kann, die Schale in der die ausgenommenen Kalmare auf weitere Zubereitung warten, die Schale mit den wegzuwerfenden Teilen (der Riesenschnabel wird sofort konfisziert und herumgezeigt und ich kriege ihn bis zum Schluss nicht wieder zu sehen), meine Schürze, meine Arme, sogar auf meinen Beinen und Schuhen finde ich später noch schwarze Flecke. Außerdem ist die “Bodenhaftung” der Tentakel noch überraschend stark. Wir wundern uns alle, ob das Tier wirklich schon tot ist, aber muss es ja, denn ich habe ihm auf Natas Anraten als Erstes den Kopf abgeschnitten.
Am Ende siegt der Mensch, und Sepia und Kalmare werden in Stücke geschnitten, kreuzweise eingeritzt und auf der heißen Plancha auf der Dachterrasse gebraten, begleitet von fein gehacktem Knoblauch, einer Prise Salz und einem paar Tropfen Zitrone. Ein netter Zwischengang bei der Pastaparty am letzten Abend, bei der insgesamt acht Nudelgänge zubereitet und serviert werden, eins leckerer als das andere.
Also. Ich war fünf Tage mit knapp 50 fremden Menschen in einem süditalienischen Fischerdorf und habe gekocht. Ist das verrückt? Ja, ist es, aber auf eine wunderbare Weise, die ich nicht missen möchte. Ich habe großartige Menschen kennengelernt, tolle Gerichte gezaubert, unglaubliche Köstlichkeiten probiert und gegessen, interessante Dinge gesehen und gelernt – und das Ganze bei 28° Celsius unter der Sonne des Mittelmeers. So muss Urlaub sein. Danke an alle, die das möglich gemacht und mit ihrer Anwesenheit bereichert haben. Beim nächsten Mal bin ich auf jeden Fall wieder mit dabei.
Ach ja, ich kann jetzt anscheinend Italienisch ;-)
P.S. Hier ist ein italienischer Artikel, in dem ich unter anderem zu sehen bin, wie ich (mal wieder) bis zu den Ellbogen in der Pampe stecke. Weitere Fotos gibt’s auf Flickr und bei eeek.
Und natürlich bin ich nicht die einzige, die davon schwärmt geschrieben hat. Hier gibt’s noch mehr Berichte:
Nata gleich zweimal
Anja: Tag 1, Tag 2
Stevan
Paul
Florian B.
Florian S.
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Der Titel ist dem Lied “Ma che bello questo amore” von Eros Ramazotti entlehnt und bedeutet “Es ist ein ganzes Universum, das es noch zu entdecken gibt”. Dieses Universum ist für mich das Kochen. Terra incognita, aber ich bin bereit.
pjebsen
Ein herrlicher Bericht! Ich bin seit 2005 wg. eines indischen Filmfestivals jeden Dezember in Florenz und verfolge den Plan, täglich im Mercato Centrale vorbeizuschauen, um einen Blick auf die herrlichen Lebensmittel zu erhaschen. Ich bedauere jedes Mal, dass ich wg. der Hotelunterkunft keine Möglichkeit habe, mich mal selbst kochender-/zubereitenderweise an den lokalen Produkten zu versuchen. Vielleicht sollte ich 2012 nach dem nächsten Foodcamp Ausschau halten …
Jamie
Hehe, was meinst du, was ich seit Tagen schon leise singe? ;-)
Freut mich ebenfalls. Es war eine großartige Erfahrung, die ich um nichts in der Welt missen möchte!
nata
Na, toll, jetzt habe ich dieses Lied im Ohr. Aber die Erinnerung an das schwarze Tintenmonster wird länger halten. Ich bin so glücklich, dass ich das alles erleben durfte und ich bin sehr froh, dass ich Dich kennen gelernt habe!