Anreise
Nach vier Stunden Schlaf aufstehen, fertig machen, letzte Kleinigkeiten verstauen. Keine Zeit für Kaffee. Das Taxi ist in einer halben Stunde da. Rollkoffer lässt sich nicht zusammenklappen. Seit wann das denn? Dem Mann fällt wieder ein, dass er ihn als “kaputt” in Erinnerung hatte.
Flugzeit nach München eine Stunde. Versuche zu lesen, aber die Nachbarn konversieren in Kneipenlautstärke. Schenkelklopferlache. Alles in mir zuckt zusammen.
Menschen, die sofort nach der Landung aufstehen, um dann minutenlang im Gang zu hibbeln. Noch nie verstanden.
Warten aufs Boarding. Es ist warm, viel wärmer als in Hamburg. Warum sind Frankfurt und München eigentlich immer überheizt?
Schaue mich um: die Arabisch sprechende junge Familie mit den ungebändigten Kindern, die um die Sitzreihen flitzen. Meine Schokolade wollte die Mutter nicht, aber vielleicht hat sie mich auch nicht verstanden. Die Kinder, ein Mädchen und ein Junge, er vielleicht sechs, sie vier, sehen aus wie die Mutter. Der Vater versucht sie auf Deutsch zur Räson zu bringen. Der Junge wiederholt lachend das hilflose “es reicht!” und rennt weiter. Krakeel, krakeel. Fliegen die etwa mit uns? Ich wünschte, ich hätte mein Ohropax griffbereit. Gehe im Geiste mein Gepäck durch. Verdammt, ich habe es ganz vergessen. Das wird noch lustig.
Blick wandert weiter: die ältere Dame, die ihre für Tel Aviv viel zu warme Jacke ins Handgepäck zu stopfen versucht. Ich möchte ihr dazwischengreifen. Wenn man die Jacke anders falten würde und dann… Ach, was kümmert’s mich? Neben mir der indisch aussehende Mittfünfziger, der eine Liebesschnulze im Taschenbuchformat liest. Bollywood auf dem Cover, buntes Herzensglück, for under 60 and over. Na dann.
Meine Damen und Herren, wir beginnen mit dem Priority Boarding. Der sportliche Pferdeschwanz, der schlauer sein wollte, wird abgewiesen. Holzklasse. Schade aber auch. Do I look like I fly fucking economy?
Finger hat ein starkes Gefälle. Ich muss kichern und mich am Mann festhalten. Winzige Maschine, voll ausgebucht, großes Handgepäck bitte am Eingang abgeben. Die Kneipenlaberer sitzen wieder genau neben uns. Dafür ist die arabische Großfamilie nirgends zu hören.
Überbrücke die Zeit mit ausgiebiger Wolkenbeobachtung, schlafen, lesen und schreiben. Vermisse meinen Schreibtisch und das Gefühl der glatten, klappernden Tasten unter den Fingern.
Bei Ankunft Sonne und staubige Palmen am Startbahnrand. Mein Herz hüpft. Tante und Onkel empfangen uns in der vollen Ankunftshalle, lächelnd wie Kinder. Sie sind alt geworden, klapprig. Lange her. Die Wärme außerhalb des Flughafengebäudes umspült uns wie eine volle Badewanne. Eine Bullenhitze. “Letzte Woche war hier noch Winter”, sagt meine Tante. Ich denke an hoch aufgetürmte Schnee- und Eisberge und lache. Zuhause angekommen, fliegen als Erstes die Schuhe von den Füßen. Ein Hoch auf die kühlen Fliesen in israelischen Wohnungen.
Die Hochzeit ist morgen Abend. Wir sind so fertig nach all dem frühen Aufstehen, in Fluzeugen sitzen und lauter Dinge zu essen bekommen, dass wir verdammt froh sind, nicht erst morgen angereist zu sein, wie ursprünglich geplant. Man ist ja keine Zwanzig mehr.
Wir machen ein Nickerchen. Das Computerzimmer ist seit jeher unser Gästezimmer. Das Sofa stammt noch aus Rumänien und ist ordentlich durchgelegen, der Raum misst an jeder Seite des ausgezogenen Sofas noch jeweils gefühlte zwanzig Zentimeter, in denen wir unsere Trolleys, Handtaschen, Klamotten, Schuhe und Geschenke verteilen. Wegen der Hitze hat meine Tante aus den Tiefen der Abstellkammer die guten alten Waffelpiquet-Decken ausgegraben. Für mich und meine melancholische Ader. Früher musste ich mich jedes Mal mit den Dingern eindecken, wenn ich dort war. Überhaupt dünkt mir, wird es ein Trip in die Vergangenheit.
Lag baOmer
Abends haben wir Lust auf einen Spaziergang. Es ist ein wenig kühler geworden und noch Zeit bis zum Abendbrot. Wir ziehen zu Fuß los, die Nachbarschaft erkunden. Nach ein paar Metern schallt uns Bumbum entgegen. Irgendjemand feiert wohl eine fette Party in seinem Garten. Rauch in der Luft, ich atme tief ein. All die verpassten Osterfeuer, auf die ich immer gehen will. Wir biegen in eine Seitengasse ein und werden von der Lautstärke erschlagen. Menschen aller Geschlechter und Altersstufen eilen an uns vorbei. Ihr Ziel ein zweistöckiges Gebäude, vor dem mannshohe Boxen aufgestellt sind. Aus den Boxen Rockkonzertlautstärke. Wir stehen schüchtern am Rand, fühlen uns wie Eindringlinge in unseren kurzen Hosen und den Strandschlappen. Um uns herum langärmelige Hemden und bodenlange Kleider, schwarze Sakkos, blickdichte Strumpfhosen, Kopftücher, Perücken, Hüte. Schläfenlocken. Alle orthodox.
Vor der Synagoge (wie uns nun klar ist) steht eine merkwürdige Konstruktion: ein Karren voller Holzscheite und obendrauf aufgebockt eine große Puppe. Ein Scheiterhaufen? Wir bleiben, neugierig, auch wenn sich lange nichts tut.
Irgendwann gießt ein Jüngling Benzin auf die Holzscheite. Und gießt. Und gießt. Und gießt. OK, denken wir, da soll ein Feind Israels so richtig endgültig verabschiedet werden. Oder was ist das hier? Ich versuche mehr rauszufinden. Aber mein Hebräisch gibt das Wort “Symbol” nicht her, und Englisch können die drei Grazien nicht, die ich befrage. Ich wollte wissen, wofür diese Puppe dort oben steht, die gleich angezündet wird. Wie wofür? Fragende Gesichter. Immerhin erfahren wir, dass heute Lag BaOmer ist. Ein Feiertag also. Gut. Das Orakel zu bemühen ist gerade ein wenig mühsam, weswegen wir Internetaktivitäten auf später verschieben, wenn wir zuhause sind und WLAN haben.
Derweil ist es um den Scheiterhaufen sehr voll geworden. Mann und Maus drängen nach vorn. Für den besten Platz, die beste Sicht, bloß nichts verpassen von diesem Fest. Ein junger Rabbi erscheint auf der Bildfläche, ergreift ein Mikro, die Musik verstummt. Eine Rede. Ich versuche, Brocken aufzuschnappen, es gelingt mir nicht. Nach fünf Minuten redet er noch immer. Das einzige, das ich verstehe, ist… nun ja, Lag BaOmer. Längst sind auch wir näher gerückt und stehen an einem Zaun hinter einer riesengroßen Mülltonne. Es riecht… spannend, aber so können wir wenigstens mehr sehen.
Nach gefühlt zwanzig Minuten hört der Singsang des Redners auf, wir atmen auf. Eine Fackel wird ins Bild gereicht, der Scheiterhaufen angezündet. BOOM! Durch die vielen Liter Benzin entzündet sich das Gebilde binnen einer Sekunde und brennt lichterloh. Und es wird heiß. Verdammt heiß. Die Menschenmasse drängt zurück. Auch wir flüchten ein paar Meter nach hinten. Puh.
Neue Musik entflammt. Tanzmusik. Die Menschen Männer greifen sich an den Händen und beginnen singend einen Reigen zu tanzen. Frauen stehen drumrum, beobachten, reden, lachen. Kinder laufen frei herum, spielen, krakeelen, tanzen mit. Ein fröhliches Familienfest. Eins aber, das uns nach einer Weile langweilig wird. Wir beenden unseren nächtlichen Spaziergang.
Zuhause sind alle Fenster geschlossen. Wegen des Rauches, erklärt man uns. Die gesamte Nachbarschaft (eigentlich das gesamte Land, aber nun) zündet Feuer im Garten und feiert ausgelassen bis in die Morgenstunden. Spät in der Nacht öffnen wir unseres für einen Spalt und sind froh über die überraschend frische und rauchfreie Nachtluft.
Zwischen Pessach (Auszug des jüdischen Volkes aus Ägypten) und Schawuot (wörtlich “Wochen”; der Tag, an dem das Volk die Tora erhielt) sind genau 49 Tage. Man nennt diese “Omertage”. Wer dabei an Ostern und Pfingsten denkt, liegt nicht falsch.Omer ist ein altes Getreidemaß. Zur Zeit des Jerusalemer Tempels brachte man während dieser Zeit täglich ein Dankopfer im Tempel dar. Ein Omer Getreide aus der neuen Ernte.
Die Omertage sind Trauertage, man gedenkt der Leidenszeit der Juden unter Kaiser Hadrian und der Verfolgungen während der Kreuzzüge. Es ist die Zeit der Trauerriten: man darf keine Feste feiern und nicht heiraten, bei den Orthodoxen ist Haareschneiden und Rasieren verboten.
Der 33. Tag des Omer-Zählens ist Lag baOmer. An diesem Tag wird die Trauer aufgehoben, man darf wieder lachen und feiern und sich schick machen.
Und der Name?
Hier kommt der für mich faszinierende Part: die hebräischen Buchstaben sind zugleich auch Zahlen, wobei G für die 3 steht und L für die 30. Zusammengezählt: 33. Aussehen tut das dann so: ל״ג, was man eben “lag” liest. (Da gibt’s noch mehr “Spielereien”, die mir Freudentränen in die Augen treiben, aber dazu vielleicht ein andermal)
Und was hat das mit den Feuern auf sich, die überall brennen?
Zeitgleich mit Lag baOmer fällt auch das Feiern des Bar-Kochba-Aufstandes aus dem Jahr 135 n. Chr. Ein Aufstand gegen die Römer, der zunächst siegreich war. Diesen Sieg verkündete man damals mit Freudenfeuern.
Fortsetzung folgt…
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