Tagein, tagaus sitzt er auf seiner auseinandergefalteten Pappschachtel auf dem Fußboden des Fußgängertunnels, neben sich sein gesamtes Hab und Gut, sorgfältig in eine Stofftasche mit Aufdruck gestopft, einen von denen, die es für ein paar Cent mehr an der Kasse beim REWE gibt. Ein paar Cent mehr für ein reines Gewissen.
Es ist kalt dort im Tunnel, aber die Jacke ist gefüttert und der Troyer hält sicher noch einen Winter, ganz bestimmt.
Er hat sich aus ein paar Kunststoffrohren aus dem Baumarkt ein Didgeridoo gebastelt, auf dem er immer spielt, wenn jemand vorbeikommt und es sich anhören mag. Dann schließt er die Augen und schnippt im Takt dazu, ganz im Klang seiner Musik versunken.
Er freut sich über jeden Besucher. Zu selten verirrt sich jemand in diesen dämmrigen, feuchten Tunnel, der nach Urin stinkt und dessen Wände über und über mit schlechten Graffiti besprüht sind. Auch ich vermeide ihn nach Möglichkeit, zu unwohl fühle ich mich bei dem Gedanken, ins klamme Dämmerlicht hinabzusteigen und für solch eine lange Zeit die Luft anhalten zu müssen. Heute jedoch, heute kann ich nicht anders, die Straße oberhalb des Tunnels ist beißend, ich spüre es genau, viel zu viele Autos, viel zu aggressiv die Fahrer, obendrein regnet es, und ich bin froh, den Wassermassen für wenigstens eine Minute zu entgehen.
Ich sehe ihn schon von weitem, im Schneidersitz auf seinem Papplager, die Mütze tief ins Gesicht gedrückt, das Didgeridoo stolz vor sich. Als ich mit großen Augen näherkomme, von Gerät und Bauart fasziniert, lächelt er mich an und legt das Rohr an die Lippen. Ich bleibe stehen, Neugier und Höflichkeit ringen um die Oberhand.
Er spielt mir etwas vor, das keinen Namen trägt und keine Melodie aufweist, aber dennoch als Musik erkennbar ist, Töne, Pausen, Rhythmus. Seine linke Hand gibt energisch den Takt vor, schnippt und schlägt gegen das Knie auf dem sie liegt, Bass Drum und Hi-Hat. Seine Lippen prusten und blubbern ins Kunststoffrohr und erzeugen Töne von einer surrealen Athmosphäre. Es berührt mich zutiefst, wie er sich um Applaus bemüht, wie ein Schauspieler, der in seinem letzten Auftritt nochmal alles gibt.
Als die Musik verstummt, lächle ich ergriffen, fingere aus meinem Portemonnaie einen 5-Euro-Schein und lege ihn ihm vorsichtig in die runzlige Hand. Ich mag ihm nicht in die Augen sehen. Das Geld tröstet nicht im Geringsten darüber hinweg, dass ich mich nun beeile, aus dem Tunnel zu kommen.
Sarah
mhm. vielleicht treffe ich ihn ja auch einmal – irgendwann….
nochmal
j@littlejamie, ich überlasse es deinem herzen, dich bei der demaskierung dieser zeilen, zu geleiten. dein gefühl wird dir die richtige person weisen, daran hege ich kein zweifel :-smile
leise bestrumpft, wie ein rotweinfleck auf der suche nach einer weißen tischdecke sieht man nur mit dem herzen gut, das wesentliche bleibt für die augen verborgen (frei nach saint exupery)
Jamie
Herr von und zu Wissen: Ich bin mir nicht sicher, ob deine Worte tatsächlich des Lobes sind oder vielleicht doch des Spottes. Ich glaube auch zu wissen, wer du bist, wenngleich dein Schreibstil mir doch das eine oder andere Fragezeichen auf die Stirn zaubert.
Nun denn, wie dem auch sei: ich danke dir für die Anerkennung. Und würde mich über eine Demaskierung freuen, gerne auch geheim, sprich per mail an j ät littlejamie punkt com.
nochmal
eine kleine “ergänzung” zu meinen kommentar von gestern: dein blogartikel ist wunderschön geschrieben!!! so leichtfüßich dass die satzteile in meinen augen zu schweben scheinen. neugier und höflichkeit ringen um oberhand, das ist graziös in worte gefasst, was wir alle empfinden würden, aber so lyrisch nicht zu beschreiben im stande wären. als er dich dann nach diesem moment des zögerns anlächelt und sein rohr an deine lippen legt, lächelst du ergriffen und gibst ihn 5 Euro. hoffentlich weiß er was eure “begegnung” in dir ausgelöst hat, aber er hat sicherlich kein internet um das hier zu lesen. schade!
Dr. G.-E. Wissen
was ich gut finde ist, das er trotz seiner situation den mut nicht verliert und auch auf geklauten ke-rohren musik spielt. und wenn er dabei noch geld “verdient, umso besser für ihn!
letztendlich zeigt dieser moment des innehaltens und intensiven zuhörens, das der mensch nicht so verkommen ist wie uns die medien wie rtl, sat1 und rtl2 u.s.w. täglich im fernsehen vorführen/vormachen. es gibt immer noch andere die wissen das die schere weiter auseianander geht.
solidarität ist ein ein vielvergessener grundpfeiler unser gesellschaft, dass du ihm gibst obwohl du selbst nicht so viel hast, zeigt deinen inneren anstand.
einen toast auf euch beide!!!